Mittendrin statt nur dabei.

Über unseren Blog „Mitten im Geschehen“ könnt ihr täglich aktuelle Neuigkeiten aus unserem Kinderheim Angels Home for Children in Sri Lanka erfahren. Sowohl die Projektleiter Frank und Julia als auch die Freiwilligen berichten hier über ihre Arbeit mit den Mädchen, witzige Begebenheiten aus dem Alltag oder auch über Besonderheiten aus einem Leben in Sri Lanka. Mit unseren Blogeinträgen möchten wir euch kontinuierlich auf dem Laufenden halten und teilhaben lassen, was wir dank eurer Hilfe mit dem Dry Lands Project e.V. für die Kinder hier erreichen. Viel Spaß beim Lesen!
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Jedes Kind hat seinen emotionalen Rucksack zu tragen

Jede Geschichte ist individuell Jede Geschichte ist individuell

Wenn die rosarote Brille mal Pause hat


Die rosarote Brille, mit der ich hier angekommen bin und seitdem nicht mehr abgesetzt habe. Ne, die bleibt auch auf. Ach, die Angels, da komme ich ins Schwärmen – wahrhaftig wie kleine Engelchen, so zuckersüß mit ihren großen dunklen Augen, so unschuldig, wenn sie deine Aufmerksamkeit wollen und lieb, dass man ihnen am liebsten keinen Wunsch abschlagen möchte. Aber was passiert, wenn die rosarote Brille Pause hat?

Tränen und Trotz. Brauchst du Trost? Verrat mir, warum verhältst du dich gerade so? Während ich in den ersten Tagen das Gefühl hatte, dass die Mädchen sich von ihrer besten Seite präsentieren wollen, damit die Neue sie auch ja schnell ins Herz schließt (dieser Plan hat übrigens glorreich funktioniert), so zeigen sich nach vier Wochen auch ihre anderen Seiten. Gute und schlechte Momente hat ja schließlich jeder.

Reden wir über Shanika und warum die rosarote Brille hier schnell an Wirkung verloren hat. Frank meinte noch zu mir: „die hat es Faustdick hinter den Ohren, da musst du aufpassen". Jaja, denke ich. So lieb wie sie mich angrinst, will ich das gar nicht wahrhaben. Ich mache mir mein eigenes Bild. Rechtbehalten hat er, ihren Namen wusste ich noch vor Ende des ersten Tages. Am Anfang sticht sie mir eher negativ ins Auge. Die 11-Jaehrige möchte ihre Grenzen austesten durch kleine Lügen. Nicht mit mir. Eines Morgens bringt sie mir Früchte, ich bin verwundert. Am nächsten Tag streicht sie sanft mit ihren Fingern über mein Gesicht und wiederrum am nächsten Tag umarmt sie mich. Jetzt nennt sie mich Mama, tja. Das ist eine abrupte Änderung im Verlauf. Glaubt mir, damit habe selbst ich nicht gerechnet. Einmal eine scharfe Linkskurve bitte. Etwas hat sich grundlegend verändert. Jetzt – eine Woche später – sucht sie immer noch Aufmerksamkeit und Zuneigung. Aber wie kommt das? Was mir früh auffällt, Shanika zeigt oft gegensätzliche Verhaltensmuster und Inkonstanten. Ich kann es nicht anders beschreiben als das Gefühl von Hitze, dann plötzliche Kälte. Erst laut und dann leise. Als würde sie Freiheit und Platz, sowie Liebe gemischt mit Fürsorge gleichzeitig brauchen, aber eigentlich braucht sie auch gar nichts. Mal ehrlich und direkt, dann abweisend und unfair. Was lösen diese Stimmungsschwankungen in ihrem Verhalten aus? Was steckt hinter deinem Verhalten kleine Shanika? 

Jedes Kind hat seinen emotionalen Rucksack zu tragen.


Ein ständiger Begleiter, unabhängig von Körpergewicht oder Größe. Auch das Alter ist hier egal. Er wird nicht mal eben abgesetzt, wenn die Ferienzeit beginnt, wie wir sie jetzt etwa haben. Aber der Rucksack ist nicht immer gleich schwer. Es gibt Tage, da ist er Federleicht und Tage, da liegt eine große Last auf den Schultern der Kleinen. Da gibt es keine Regel. Ein Anlass zu fragen: was steckt hinter deinem Verhalten, ohne sie wirklich zu fragen. Es wird Zeit zu hinterfragen. Das heißt, auch den familiären Hintergrund zu checken.

Das mache ich im Übrigen häufiger so. Ich gucke mir Hintergrundgeschichten von Kindern an, mit denen ich in letzter Zeit besonders viel zu tun habe. Ich erhoffe mir so, besser verstehen zu können, was die schwierigen Momente der Kinder begründet und auf dieser Weise besser helfen zu können.

Wie etwa bei Shanika. Das ist ihr Background kurz zusammengefasst: Die Identität ihres Vaters ist unbekannt, er ist kurz nach ihrer Geburt verschwunden. In ihren ersten Lebensjahren wird Shanika mit häufig wechselnden Partnern ihrer Mutter groß. Letztendlich gibt die Mutter sie ab, als sie ihren jetzigen Lebenspartner trifft. Das liegt auch daran, dass der Mann selbst zwei Kinder in die Ehe mitbringt und nicht bereit ist, die Kinder, die nicht von ihm stammen, zu versorgen. Das ist in Sri Lanka leider normal. Shanika verbringt ihre folgenden Jahre dann in einem Kinderheim für kleine Kinder, bis sie dafür zu alt wird und zu uns ins Angels Home wechselt. Zwischendurch Kontakt mit ihrer Mutter hatte sie sehr selten, letztes Mal im April 2021, woraufhin die Mutter den Kontakt wieder abbricht. 

Sie, wie alle anderen Kinder hier, leiden unter dem Verlust ihrer primären Bindungsperson.


 8:00 Uhr abends, wir machen eine Meditationsübung. Naja, so zumindest der Plan. Alle auf der Bühne versammelt, Hiruni, ein jetziges Kindermädchen, früher selbst Kind im Heim, verbindet sich mit dem Lautsprecher. Eine männliche Stimme fängt an zu singen. Es hört sich schön an. Mehrere Minuten vergehen, vielleicht so 20. Ich sehe wie ein Mädchen neben mir sitzend, rote, feuchte Augen bekommt. Ich gucke nach links und rechts. Andere Mädchen verdrücken sich ebenfalls die ein oder andere Träne. Verwunderung kommt in mir auf – ich musste beim Meditieren noch nie weinen. Was ist da los? Ich höre genau hin. „Mama oyata adareyi amma", wird immer und immer wieder gesungen. Das heißt so viel wie „Mama, ich liebe dich", fällt mir dann in den Kopf.

Ich gucke zu Shanika. Sie liegt mit dem Rücken auf den Boden, Augen geschlossen. Was sie denkt, weiß ich nicht. Ich, für meinen Teil, denke an die Tatsache, dass ihre Mutter vor einem Jahr den Kontakt zu ihr abbrach.

Nach der Meditation nehme ich viele Mädchen einmal fest in den Arm. Ebenso kommt Shanika zu mir, sie schlingt ihre Arme um meine Hüfte und legt ihren Kopf Herznahe hin. Das fällt mir im Übrigen oftmals bei Umarmungen auf. Die meisten Mädchen legen ihre Hände am liebsten um meine Hüfte und platzieren den Kopf auf Brusthöhe. Dabei ist es egal, ob das umarmende Mädchen genauso groß ist wie ich oder ich selbst am Sitzen bin. Genauso habe ich früher auch gerne umarmt und tue es manchmal noch bei meinen Eltern. Diese Art von Umarmungen geben einfach ein unglaubliches Gefühl der Geborgenheit und Nähe. In dieser Position stehen Shanika und ich einige Minuten. Sie, wie alle anderen Mädchen hier leiden unter dem Verlust ihrer primären Bindungsperson. Der Frage wo gehöre ich hin, wer ist für mich da. Wie ernst sie es meint, wenn sie mich „Mama" nennt, weiß ich nicht. Ich finde es einfach schön diesen Moment mit ihr zu teilen. 

Ein kleiner Garten mit bunten Pflanzen


Manchmal fühlt man sich hier wie eine Gärtnerin, die sich um verschiedene Pflanzen kümmert. Die eine Pflanze mag die pralle Sonne am liebsten, während die andere im Schatten am besten gedeiht. Die eine muss man mehr gießen, während die andere kaum Wasser braucht. Die eine wächst, während viele Pflanzen sie umgeben, während die andere viel Platz für sich braucht. Jede Pflanze braucht eine andere Pflege, damit sie wächst, ihre Blüten entfaltet und blüht. Individualität und Einzigartigkeit ist dann das Resultat. Gleiches gilt für die Mädchen.

Zurück zu Shanika: Als Pflanzenkenner hätte ich jetzt folgendes gesagt. Sie mag die pralle Sonne ganz gerne, beim Gießen muss man vorsichtig sein und wachsen tut sie gerne mit älteren Pflanzen in der Nähe. Heißt, sie strahlt gerne im Mittelpunkt des Geschehens. Mit Aufmerksamkeit kann man sie nicht überschütten, sie braucht ihre Freiheit und ältere, ausgewählte Mädchen und Kindermädchen oder Freiwillige hat sie gerne um sich rum. 

Wachsen wird erschwert, bei ständigem Umtopfen…oder?


Die fehlende Konstante in Shanikas Leben erklärt ihre sprunghaften Verhaltensweisen. Erinnern wir uns nochmal an ihren Background: 1. Zuhause: bei ihrer leiblichen Mutter, 2. Zuhause: ein Kleinkinderheim, 3. Zuhause: Angels Home. Fällt dir etwas auf? Die einzig wiederkehrende Konstanze die sie hat, ist, dass nichts bleibt. Auch die Kindermädchen und Freiwilligen ändern sich hier in einem regelmäßigen Abstand. Immer wieder ein neuer Ort, neue Leute… neues Glück? Ich habe das Gefühl sie versucht immerzu Distanz zu den Anderen zu behalten. Immer wenn ich anfange, vertrauen zu fassen, schubst sie mich weg. Als hätte sie Angst, sich an etwas zu binden. Diese Bindungsängste sind daraus begründet, es nicht anders zu kennen. Vermutlich ein Schutzmechanismus.

Verhaltensauffällig ist sie bestimmt. Präsenter als Andere. Seit Tag eins kenne ich schließlich ihren Namen. Nichtsdestotrotz fällt Shanika mir nicht nur auf dieser Weise auf. Ganz im Gegenteil! Sie ist eine der wenigen, die mit ihrem eher mangelnden Englischniveau trotzdem so stark das Gespräch mit uns sucht. Entgegen dem Verhalten anderer Mädchen mit demselben Englischniveau, empfindet sie beim Reden weder Scham noch Zweifel. Kreativität beim Reden, das muss man ihr lassen. Ihre wiedererkennbare, teuflische Lache als Markenzeichen. Sowie ihre immerzu lustige und eigene Art.

Ach, liebe Shanika, bin ich froh diesen Bruchteil deines Lebens zu begleiten. Mit den Teenagejahren vor der Tür, hast du noch einiges vor dir. Mit deiner lauten und präsenten Art wird das bestimmt ein Erlebnis für alle im Kinderheim. Ich finde du machst dich prima. Hast schon mehr durchgemacht als andere Kinder in deinem Alter. Ich möchte deine verkorkste Art nicht missen, deine plötzlichen Kuschelattacken, deine netten Gesten aber auch deine kleinen Intrigen. Du hast es geschafft, dich habe ich jetzt auch ins Herz geschlossen.

So, genug gelabert. Die rosarote Brille ist wieder auf, durch die ich jetzt die breit grinsende Shanika sehe. 


Johanna

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