Besucher im Angel's Home

Ein Balanceakt zwischen Erinnerung und Gegenwart

Viele neue und bekannte Gesichter.„Ich kenne doch diese Stimme“, denke ich mir. Mein Blick bleibt bei Kumari haften, die mit ihrem grinsenden Gesicht – ganz wie früher – nur darauf zu warten schien, dass mein suchendes Augenpaar bei ihr stehen bleibt, damit sie mir ihr freundliches Lächeln zuwerfen kann – getoppt von ihrem typischen Augenzwinkern. Nichts hat sich verändert. Und doch hat sich alles verändert. Kumaris Haare sind länger, zu einem dicken Pferdeschwanz gebunden und das Gesicht ein wenig markanter, als ich es in Erinnerung habe. Ich sehe mich weiter um, will noch mehr Gesichter erkennen, Stimmen hören und sehen, wer noch da ist, wen ich erkenne und wer sich verändert hat…

Vor fünf Jahren habe ich hier im Angels Home für kurze Zeit mein deutsches Leben gegen jenes in Sri Lanka eingetauscht. Für zwei Monate war ich Praktikantin in dem Kinderheim, dem ich bis heute und zuletzt über eine mehrjährige Kinderpatenschaft verbunden geblieben bin.

Subashini, das ehemalige Patenkind von Tim und mir, treffen wir heute auch. Jedoch nicht zum ersten Mal, schließlich hatte ich sie – ebenso wie einige anderen Kinder – vor fünf Jahren schon kennengelernt. Subashini ist nicht sofort zu erblicken, was bei dem Heimgelände nicht verwunderlich ist – scheint es nämlich noch viel größer, als ich es in Erinnerung habe. Bis wir sie erspäht haben, versuche ich mir weitere Kindergesichter in Erinnerung zu rufen, die ich nun in den Gesichtern heranwachsender junger Frauen wiederzuerkennen versuche. Mein Blick bleibt an einem unverkennbaren, runden Mondgesicht hängen, dessen liebevolle Konturen es unmöglich zu machen scheinen – damals wie heute – ein Gefühl von Zorn oder schlechter Laune auszudrücken. Wer Sandiya jemals kennenlernen durfte, der wird wissen, was ich meine. Wie alte Freunde begrüßen wir uns mit einem High Five, als hätten wir es erst gestern zuletzt getan und nicht etwa vor fünf Jahren.

Das Wiedersehen mit SubashiniIch sehe mich weiter um. Höflich wie sie sind, antworten alle weiteren Mädchen, die ich erkenne und frage, ob sie mich auch wiedererkennen mit „Ja“, dicht gefolgt von einem verschämten Grinsen. Ob das wohl stimmt?! ;-) Bei einem Mädchen bin ich mir jedoch sicher, dass sie mich noch kennt. Über Jahre hielten wir eine Brieffreundschaft und haben uns gegenseitig Jahr für Jahr Post zu Weihnachten geschickt. Nun ist auch sie auf dem Hof des Heims eingetroffen: Subashini, unser Patenkind. Da steht sie vor uns, fünf Jahre später als junge Lady. Sie zeigt uns das neue Gelände, auf welchem sie mit den drei anderen der ältesten Mädchen vorübergehend wohnt, bis sie ihren Job antritt und das Angels Home endgültig verlässt. Ihr Auftreten ist selbstbewusst, fähig, eigene Entscheidungen zu treffen und gewappnet für das Leben. Soweit es einer jungen Frau in Sri Lanka möglich ist. Ich wünsche das Beste für sie.

Am nächsten Tag haben wir noch einen gemeinsamen Tag, an dem wir mit allen Kindern unsere Überraschung, die wir den Mädels mitgebracht haben, aufbauen und ausprobieren können. Damit geht die reguläre Spielzeit von 17-18 Uhr in eine neue Runde. ;-) Ab jetzt wird auf der neuen Slackline balanciert. Da es ein Sonntag ist, haben wir glücklicherweise mehr als nur eine Stunde Zeit dafür.

Bild 3Die ersten Versuche starten mit den Mädels, die bereits aus der Kirche gekommen sind. Mit leicht verwirrten, etwas unsicheren Blicken versammeln sie sich unter den Palmen, unter denen Tim die Slackline montiert hat. Zunächst will sich keine so wirklich herantrauen, also machen wir, die wir eigentlich auch keine Experten auf dem Gebiet sind, es so gut wie möglich vor. Mit ein bisschen Motivation und Animation trauen sich die ersten Mädchen schließlich auch vor. Darunter Nishama, die mutig auf die Leine steigt und vorsichtig, aber doch etwas zu hastig, einen Schritt vor den nächsten tut, bis das Gleichgewicht ihr prompt einen Strich durch die Rechnung macht und sie etwas weniger grazil von der Leine springt. Mit einem breiten Grinsen feiert sie ihren ersten Erfolg und alle stimmen lachend mit ein. So geht es immer weiter. Die nächsten Mädels trauen sich heran. Weitere Versuche starten: linker Fuß vor, rechter Fuß vor… Balance halten… die Leine zum Wackeln bringen… lachen… fallen… noch mehr lachen und alle um sich herum zum Lachen bringen. Die ersten Versuche auf der Slackline.Das ist die erste Lektion. Reihum geht es so weiter, bis die restlichen Mädchen aus dem buddhistischen Tempel kommen. Ehe man vernehmen kann, dass sie da sind, ertönt ein lauter Kinderchor durch die Kokospalmen des Heimgeländes: „G O O D   M O R N I N G , J U L I A A A !“, dicht gefolgt von „G O O D   M O R N I N G , E V E R Y B O D Y Y Y !“ Zum Dahinschmelzen.

Den Nachmittag verbringen wir mit nichts anderem, bevor die einzige Aufgabe an diesem Sonntag fällig wird: die tägliche Gartenarbeit. Es wird Laub gefegt, Blumen werden gegossen und all die Arbeiten erledigt, die die Mädels lehren sollen, später einmal, im Erwachsenenalter, ihr eigenes Zuhause schön zu halten. Etwa so schön, wie sie es im Angels Home haben und ich es fünf Jahre lang in Erinnerung hatte und es ab heute weiterhin in Erinnerung halten werde. Bis zum nächsten Mal!

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